Dienstag, 22. November 2016



22.11., Delhi, Leh
Ein Fluggast mit obligatorischem Schnurrbart, der mir verträumt lächelnd meine Finger streichelt, die ich arglos in seiner Reichweite geparkt habe, während wir alle darauf warten, aus dem abgewohnten Flieger in den nächtlichen Smog entlassen zu werden. Ein Beamter, der von seiner Wasserflasche trinkt, ohne sie mit den Lippen zu berühren, während mir meine Fingerabdrücke abgenommen werden. Ein nicht mehr wirklich subtiler Gestank, der sich wohl für immer in den dicken Teppich, mit dem der Flughafen beinahe gänzlich ausgelegt ist, gefressen hat. Kein Zweifel, Indien hat mich wieder. Vorbei am Deportee Room, in dem ein paar unglückliche Frauen darauf warten, dass irgendetwas mit ihnen geschieht, gehe ich und freue mich aufrichtig, als das Förderband doch noch meinen Rucksack ausspuckt, dann mache ich mich auf, mein Glück bei einem der zwei Wechselschalter in der Ankunftshalle Delhis zu strapazieren. Die sind von einer beachtlichen, leicht wogenden Traube unruhiger Menschen belagert, die hier eine kürzlich vom indischen Premierminister ohne jegliche Vorankündigung getroffene, für das ganze Land folgenschwere Entscheidung ausbaden müssen. Um die Korruption einzudämmen und Schwarzgeldflüsse zu unterbinden ließ der Schoitl nämlich die zwei höchsten im Umlauf befindlichen Geldscheine, den Fünfhunderter und den Tausender, über Nacht für ungültig erklären. Besitzer dieser Banknoten müssen nun scheinbar deren Herkunft deklarieren, bevor sie sie bei einigen staatlichen Stellen in noch gültige Scheine umtauschen können. Soweit die angedachte Theorie. Praktisch wurden mit dieser Aktion mit einem Streich sechsundachtzig Prozent des gesamten Geldwertes vom Markt  genommen und es gibt zu wenig kleine Scheine im Land, als dass dieser Wegfall damit gutgemacht werden könnte. Mit den neu aufgelegten Zweitausendern kann sowieso fast niemand etwas anfangen. So einen großen Lappen gewechselt zu bekommen ist so gut wie unmöglich für den durchschnittlichen Inder. Wenn ein Tee zum Beispiel zehn Rupies kostet oder ein Mittagessen vielleicht siebzig, braucht man nicht viel Fantasie, um die Reaktion des Wirten erahnen zu können, sollte man ihm so ein Scheinchen hinhalten. Der ganze Staat mit seinen 1,2 Milliarden Menschen befindet sich somit quasi im monetären Ausnahmezustand. Der Warentransport ist größtenteils zum Erliegen gekommen, die Fahrer können ihre Lastwagen nicht mehr betanken und lassen sie kurzerhand irgendwo in der Gegend stehen. Die Kranken können ihre Behandlungen nicht mehr bezahlen, die Geldautomaten sind leer. Keine Hochzeiten mehr, die Bauern können kein Saatgut einkaufen. Der Tauschhandel floriert, die Restaurants und Geschäfte lassen notgedrungen anschreiben. Und die Touristen stellen sich gemeinsam mit den Einheimischen schon lange vor Sonnenaufgang vor den Banken an, um vielleicht doch noch ein paar Rupies zu ergattern. Auch jetzt, um 3.30 in der Früh, kann ich froh sein, in der Halle bei den Inlandsanschlussflügen als zweiter Kunde einer zufällig gerade aufgesperrten Wechselstube an die Reihe zu kommen. Fünfzig Euro beträgt mein Limit. Die paar Scheine in der Lade werden auch so keine halbe Stunde reichen. Fünfzig Euro, das ist nicht viel. Zwei Wochen werde ich in Ladakh bleiben und ob ich dort noch Geld wechseln kann, muss sich erst weisen. 
Auf den TV-Bildschirmen entlang der Gates werden tonlos die Aufräumarbeiten des letzten großen Zugunglücks gezeigt, die zerknitterten Waggons und das Chaos. Liebliche Frauenstimmen, begleitet von Sitar und Tabla, legen sich derweilen wie ein Klangsedativum über die Flughafenhallen.
Der Pilot des kleinen Passagierflugzeuges nach Leh wähnt sich später als junger Tom Cruise in Top Gun und zieht für meinen Geschmack viel zu niedrige und viel zu steile Kurven durch die felsigen, mit Schnee angezuckerten Bergketten Ladakhs, ehe er hart auf einer Piste am Ende der Welt aufsetzt. Was für ein Flug. Atemberaubend und sehr beängstigend. Ein Wastl in Zivil wachelt unseren Vogel in Position und wenig später startet mit ohrenbetäubendem Getöse eine Transportmaschine des Militärs. Das bestimmt hier die Szenerie. Ladakh, ein Teil der nördlichsten Provinz Indiens, Kashmir und Jammu, ist zum größten Teil von feindseligen Nachbarn umgeben. Die Grenzen zu Pakistan und China sind seit vielen Jahren umstritten. Vom Flugzeug aus konnte ich nur endlose Steinwüsten ausmachen und laut meinem Reiseführer sind nur knapp vier Prozent Ladakhs bewohnbar, trotzdem haut man sich deswegen schon seit Jahrzehnten in die Gosche. Wie auch immer. Trucks, Antennenanlagen, überall Soldaten. 
Das Ankunftszimmer des Landeplatzes ist unbeheizt und es ist richtig kalt. Ein Verschlag der Tourist Information ist gänzlich verwaist. Mit mir landen rund zwanzig Einheimische und mit einem Kleinbus fahre ich hoch in die vier Kilometer entfernte Stadt. Schlaglöcher, windschiefe Häuser, alles ist mit braunem Staub zugedeckt. Langhaarige, ziemlich räudige Hunde auf den Straßen. Ein paar verkümmerte, gänzlich entlaubte Bäume. Vor dem Guesthouse, wo ich vorsorglich ein Zimmer gebucht habe, schreie ich mir die Seele aus dem Leib, bis mir eine Japanerin endlich das Tor zum Hof aufmacht. Sie sieht mich erstaunt an, erzählt, sie fliege in zwei Stunden zurück nach Delhi, nachdem sie die letzten drei Wochen in Leh verbracht hat, ohne jemals einen anderen Touristen gesehen zu haben. Die Lehrerin, bei der sie gewohnt hat, stellt mir erst einmal einen Tee hin und später einen Teller Suppe mit Fleisch vom Hammel. Zwei weiße Haare, wahrscheinlich von dem Viech, und ein wenig Sand am Grund des Tellers machen das Frühstück noch authentischer. Sie selbst sieht mit ihren Schlitzaugen und hohen Wangenknochen aus wie eine Tibeterin, von wo viele Menschen hierher ziehen.  Fast alle Unterkünfte hätten schon geschlossen, die Saison sei schon seit einigen Wochen zu Ende. Ich könne mein Gepäck gerne unterstellen und mich auf Quartiersuche begeben, aber dann müsse ich mich dringend ausruhen, um nicht höhenkrank zu werden. Leh liegt auf 3500 Metern Seehöhe und ihren Schätzungen zufolge speiben gute drei Viertel der Neuankömmlinge am Tag nach ihrer Ankunft, weil sie es gleich übertreiben. Sollte ich nichts finden, hätte sie ein kleines Zimmerchen frei, ich könne „as a family member“ so lange bleiben, wie ich wolle. Einfach umwerfend, diese Gastfreundschaft, sie meint das wirklich so und strahlt mich an. Mit ihrem Mann einige ich mich dann auf umgerechnet sieben Euro pro Tag inklusive Kost und Logis und erspare mir die Sucherei. Dann hau ich mich bekleidet mit allem mitgeführten Textil in den Schlafsack. Die Fenster der Kammer sind mit Zeitungsseiten zugeklebt und es ist eiskalt. Der kleine Strahler, den sie mir noch bringen, ist völlig wirkungslos und obendrein bitten sie mich, ihn nur in Betrieb zu nehmen, wenn ich nicht schlafe, der Strom sei hier sehr teuer. Aufgefrorene Hauptleitungen haben die Fließwasserversorgung von ganz Leh unterbrochen, ein Plumpsklo im Hof muss vorläufig reichen.

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