12.01., Sao Paulo, Parque Mambucaba
Zeitig in der Früh werde ich schon zum Frühstücksmarmeladebrot vom Fernseher über mir mit detailgenauen Berichten über Verkehrsunfälle eingedeckt. Die Reporterteams sind mit ihren Hubschraubern oft schneller vor Ort als die Einsatzkräfte und halten dann mit ihren Kameras schön drauf auf die Wracks und die Beteiligten.
Fliegende Händler in den U-Bahnen, die ihre in Plastiksackerln verstauten Waren lautstark anpreisen, während ich mich zum großen Busbahnhof im Norden der Stadt durchschlage. Dort besteige ich den modernen Bus nach Rio de Janeiro.
Vielleicht aufgrund meines zur Tarnung getragenen Favelalooks werde ich von zwei Bullen misstrauisch beäugt, als ich mich dem Schaffner mittels Reisepass als Tourist zu erkennen gebe und darauf bestehe, meine neun Kilo Handgepäck mit an Bord nehmen zu dürfen. Die abgefuckte Kostümierung trage ich, um als entrechteter, aus den Bergen herabgestiegener Urwaldalbino wahrgenommen zu werden, und nicht als planloses Weißbrot aus dem fernen Europa. Außerdem ist die Panier ohnehin Teil meiner üblichen Garderobe, da musste ich daheim gar nicht lange suchen.
Entlang eines der zwei biologisch toten Flüsse, die Sao Paulo nur mehr als Abwasserkanäle dienen, verlasse ich die Stadt. Schon bevor das Wasser die Metropole erreicht hat, ist es eigentlich unbrauchbar. Die Versorgung der Massen mit akzeptablem Trinkwasser ist schon vor längerer Zeit kollabiert, weil ungeklärtes Abwasser von Armensiedlungen in Ermangelung anderer Möglichkeiten zwanglos in die dafür vorgesehenen Stauseen eingeleitet wird.
Zelte und Verschläge unter Autobahntrassen und Brücken. Oft liegt Spielzeug vor den Behausungen oder eine brasilianische Flagge weht inmitten des Drecks. Bis zu zwölf Spuren der Richtungsfahrbahn zähle ich, auf der wir den Moloch langsam verlassen. Über achtzig Kilometer dehnt sich die Stadt in alle Himmelsrichtungen. Jedes Haus in den Außenbezirken ist für sich ein kleines Gefängnis. Vergitterte Fenster, Mauern, Glasscherben, Stacheldraht. Auch Motels mit Namen Pop oder Amore verstecken sich hinter hohen Mauern, wo man für ein paar Stunden die beengten Verhältnisse der Stadt hinter sich lassen und ein diskretes Stelldichein mit meist inoffiziellen Geschlechtspartnern genießen kann. Noch ein Stückchen weiter draußen dominieren die Favelas, die einen freilich armen, aber wesentlich bunteren Eindruck machen, als die einförmigen Wohntürme, um die herum sie sich gebildet haben.
Langsam, ganz langsam wird es grüner. Noch ein paar alte Industrieanlagen, zum Teil schon wieder von der Natur verschluckt. Viel hügeliges Land ist abgeholzt und auf den entstandenen Weideflächen grasen Kuhherden inmitten hunderter Termitenhügel. Es ist durchgehend bewölkt, vielleicht ist Regenzeit. Eine Zeit lang folgen wir einem breiten unregulierten Fluss. Alte VW-Busse sprotzen durch die Gegend. Ganz malerisch wird es, wenigstens bis wir uns den Vororten Rio de Janeiros nähern. Fast unbeschreiblich hässlich ist es hier. Alles wirkt verschimmelt, alles ist kaputt und mit schwarzem Gekritzel beschmiert. Der gleiche Schriftzug hundertmal nebeneinander, das Werk von Gehirnamputierten. Keine zumindest bemühten Graffitis, einfach nur sinnlose Verschandelung aller zur Verfügung stehenden Flächen. Sogar die Fassaden von mehrstöckigen Gebäuden sind hoch bis unters Dach vollgeschmiert. Die Wohnhäuser, wenn man sie so nennen will, bestehen aus viereckigen Auftürmungen unverputzter, windschiefer Betonwürfel, wie Bauklötze, die ein Kind gestapelt hat. Nicht einmal spitze Steine, die in der Absicht unter Brücken einbetoniert wurden, um Obdachlose fernzuhalten, können die Verzweifelten daran hindern, auf ihnen ihr trauriges Lager aufzuschlagen. Viele Gestalten hocken oder stehen einfach nur apathisch herum. Polizisten halten ein paar Typen mit nacktem Oberkörper in Schach, ihre Hände auf dem Autodach, Beine gespreizt. Menschen sind in schwarze Müllsäcke gekleidet, brunzen gegen Wände. Wilde Deponien fallen nicht weiter auf, die Stadt selbst wirkt wie eine einzige große Müllhalde.
Irgendwo da unten an der Küste breitet Jesus der Erlöser seine Arme aus und auf der Copacabana tummeln sich die Badegäste, heile Welt. Sogar in Kalkutta ist es schöner als hier. Kalkutta ist Döbling gegen Rio de Janeiro. Niemals hätte ich erwartet, einen noch trostloseren Ort zu finden, als das indische Drecksloch.
Unlängst habe ich gelesen, dass Präsident Bolsonaro nach einer Messerattacke gegen ihn im Zuge seines Wahlkampfes immer wieder an Darmverschluss leidet. Mit einem Besuch Rios könnte er dieses Problem leicht lösen, diese Stadt ist echt zum Scheißen. Brasil de Merda steht auf einer Ziegelwand, wahre Worte.
Am Hauptbahnhof wechsle ich den Bus. Erst außerhalb der Stadt sehe ich die ersten zwei streunenden Hunde. Vielleicht finden sie in Rio einfach nicht genug Abfälle, weil die Konkurrenz der gänzlich Besitzlosen zu groß ist. Rundum stehen grüne, noch unberührte Berge. Fortan werde ich die größeren Städte dieses Landes nach Möglichkeit meiden, muss ja nicht sein. Zwei Stunden entlang der Küste fahren wir Richtung Westen. Sanft fallen die grünen Hänge der Berge zum Meer hin ab. Ein paar Schiffe liegen vor Anker und hinter ihnen geht die Sonne unter. Kleine Dörfer zwischen der Schnellstraße und der Küste. Hier lässt sich erahnen, wie schön Rio einmal gewesen sein muss. Nur der Busfahrer ist wahnsinnig, haut sich mit halsbrecherischer Geschwindigkeit in die engen Kurven. Ich schnalle mich an, in Brasiliens Bussen geht das.
Der Grund meiner heute ausschweifenden Reiseberichterstattung liegt übrigens in den sieben Stunden, die die erste Busfahrt nach Rio de Janeiro gedauert hat, gefolgt von drei Stunden nach Conceicao und darüber hinaus. Auf der Landkarte ist der Trip freilich ein Witz, Brasilien ist riesig und nimmt die Hälfte des gesamten südamerikanischen Kontinents ein. Beschließt zum Beispiel ein Bewohner Manaus im Norden, das Wochenende in Sao Paulo zu verbringen, gleicht das dem Vorhaben, von Wien nach Teheran zu gelangen, sollte man zum Beispiel unzufrieden mit den heimischen Covid- Maßnahmen sein. Leistbare Inlandsflüge helfen bei der Überwindung der gewaltigen Distanzen, wobei ich mich wohl auf den Verkehr zu Wasser und zu Lande beschränken werde, was einen bescheidenen Wirkungskreis zur Folge haben wird.
Jedenfalls, von Conceicao de Jacarei möchte ich noch eine Fähre auf die Ilha Grande, einer Insel fünfundzwanzig Kilometer vom Festland entfernt, nehmen, was aber nicht passieren wird. Erstens sind die Buspläne wieder einmal so abgestimmt, dass man das letzte Boot knapp, aber doch versäumen muss. Blöd auch, weil ich gestern schon ein Quartier gebucht habe. Zweitens deutet mir der Busfahrer dort, wo ich eigentlich aussteigen möchte, dass ich noch gar nicht da bin. Obwohl mir mein Navi etwas anderes erzählt, bleibe ich sitzen und warte. Zehn Kilometer, dreißig Kilometer. Der Bus ist mittlerweile beinahe leer, es ist stockfinster und es regnet. Die Straße verläuft durch unbewohntes Gebiet. Ab und zu ein paar Häuser, aber keine Unterkünfte sind auszumachen. Wo fährt dieser Bus eigentlich hin? Eine Verständigung ist unmöglich. Auszusteigen bedeutet, orientierungslos im Regen zu stehen, es wird heute kein Bus mehr kommen. Nach achtzig Kilometern zwinge ich mich an der Hauptstraße einer größeren Siedlung raus und latsche in dunklen Gassen herum, bis ich das Schild einer Pousada, einer Pension, ausmache. Glücklich checke ich in unbekannten Gefilden ein.